Auckland, bevölkt, 10 Grad, steife Brise. Das perfekte Wetter um den typischen Kiwi in freier Wildbahn zu beobachten. Zwei vor Kraft strotzende Exemplare rezensieren gerade das grosse Rugby Spiel von gestern. T-Shirt, Shorts, Flipflops. Die Freizeit Uniform der Unbeirrbaren. Wahrscheinlich haben sie sich gerade vorher aus ihrem Anzug geschält, den Weg zwischen der Veranda ihres weissgetünchten Holzhäuschens in Zentrumsnähe und dem ebenso weissen Gartenhaag im Laufschritt zurückgelegt und sind jetzt auf dem Weg zu einem Abenteurer in der ungezähmten Natur Neuseelands. Der Wind steht gut für einen kleinen Segelturn mit der eigenen Jacht. Oder ist etwa schon Zeit für das erste Bier im Pub am nächsten Corner?
Das dazugehörige Kiwi Weibchen ist ebenfalls sehr einfach zu erkennen. Es trägt bei jeder Gelegenheit schwarze Jogging-Leggins und diese superleichten, neongrünen oder pinken Laufschuhe von Nike. Allzeit bereit ihre Männer in deren nächsten Abenteurern zu assistieren. Oder zumindest allzeit bereit für ein Gläschen Weisswein in einem der schicken Cafés an der Ponsoby Rd?
Der Gegenpol zu diesem typischen Kiwi ist leicht an seinem wuchtigen Bart zu erkennen. Dieser etwas andere Kiwi lebt in einem nicht ganz so weissen Holzhaus und fährt einen alten Japaner. Das Auto ist vollgestopft mit Filmequipment, mit Instrumenten oder mit dem sorgfältig gesammelten Müll der letzten Wochen, den er für Kunstwerke recyceln will. Neben Kunst und Musik ist Kiffen seine Hauptbeschäftigung. Er träumt von einem Leben als Selbstversorger in der Wildnis von ‚up north‘. Fische fangen, Wildschweine jagen, Gemüse, Tabak und eigenes Marihuana anpflanzen. Seine Bienenvölker sollen den wertvollen Manuka Medizin-Honig sammeln.
Zu diesen beiden Kiwi-Extremtypen gesellen sich die Maoris und die Einwanderer aus Tonga, Samoa oder Fiji. Sie verleihen Auckland den ganz eigenen Charme. Zwar wohnen in der Innenstadt fast nur Weisse und Asiaten aber wenn man ganz aufmerksam bleibt, kann man auch bei Tageslicht Maoris getarnt als Bauarbeiter oder als Besoffene erspähen. Draussen in Otara kehren sich die Verhältnisse um. Hier kann man Weisse an einer Hand abzählen. Auf dem kleinen Platz, wo jeden Samstag der Markt stattfindet, rappen die Grössen aus dem Quartier gegen Gewalt in der Familie an. Es werden Broschüren mit Notfallnummern verteilt. Die weiten Kleider können die groben Mengen an überflüssigem Fett nicht vertuschen. Baseball-Caps thronen auf kahlrasierten Schädeln. Tattoos wie groteske Masken wirkend, verschleiern Gesichter. Wie in der Innenstadt sieht es auch draussen in der Vorstadt mehr aus wie auf dem Land denn in einer Stadt. An der Stelle einer Phalanx aus Sozialwohnungstürmen reihen sich eingeschossige Holzhäuser mit kleinen Vorgärten aneinander. Dörfliche Nähe statt städtischer Anonymität auch beim Busfahren. Beim Aussteigen aus den Stadtbussen bedankt sich jeder noch so coole Maori-Homie beim Chauffeur fürs Fahren. Und das untrüglichste Zeichen für Provinz: Auf Aucklands Strassen sieht man mehr blaue Subaru Imprezas mit Heckspoiler als an einem Dorffest im Aargau.
Allen Kiwis gemeinsam scheint ihre Affinität zur eigenen Familiengeschichte. Wann und wo die Vorfahren das Schiff verlassen und erstmals neuseeländischen Boden berührt haben, weiss jedes Kind. Und der Barfusskult ist bemerkenswert. Ok für Maoris als gestandene Krieger ist es Ehrensache Härte zu markieren. Aber auch einige Schüler gehen im Winter barfuss, Schülerinnen tragen den Uniformrock ohne Strümpfe. Und es ist nicht so, dass sich die Kiwis in ihren Holzhäusern aufwärmen könnten. Dort friert man den ganzen Winter. Isolation kennen die auf der Insel am anderen Ende der Welt nur als Lebensgefühl.
Die geografische Lage dient den Neuseeländern oftmals als Erklärung für Dinge, die nicht so ganz optimal funktionieren. In Sachen Internet ist Neuseeland ein Entwicklungsland: teuer, langsam und mit Datenmengen Begrenzung. Bei Lebensmitteln werden die Kiwis auch abgezockt, die einheimische Kiwifrucht kostet gleich viel wie bei uns in der Schweiz, nachdem sie einmal um die Welt gereist ist. Gemüse ist (zumindest im Winter) fast gleich teuer wie Fleisch. Ein Liter Milch kostet im Laden zwei Dollar. Mit solchen Preisen ist Neuseeland kaum zum grössten Milchexporteur der Welt geworden.
Aber die abgelegene Lage dient nicht nur als Erklärung für unerfreuliche Dinge. Die spezielle Inselmentalität wird auch gern als Grund für die Musikalität, die Kreativität, die Naturverbundenheit oder die Freundlichkeit der Menschen herbeigezogen. Fast jeder Kiwi ist stolz auf sein Land. Und zu Recht: weite abwechslungsreiche Landschaften, saftige Wiesen, sanfte Hügel, Vulkane, Berge und Gletscher. Das Meer und einsame Strände in Stadtnähe. Milde Winter und warme Sommer. Geht’s noch besser?
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