STREETPARADE DER MASOCHISTEN
Der Gläubige giesst sich mit langsamen, bewussten Bewegungen immer wieder Wasser über den Kopf. Er scheint jeden einzelnen Tropfen auf seiner Haut zu spüren, das Ritual zu geniessen. Dann beugt er sich leicht nach vorne, schliesst die Augen und lässt sich einen roten Punkt auf die Stirn malen. Nun ist der Gläubige bereit seine Bürde zu tragen. Bereit für Thaipusam, das Fest zu Ehren des Hindugottes Murugan.
Zu zweit, jeder auf einer Seite der Wirbelsäule, befestigen die beiden Piercer Dutzende von grossen silbrigen Haken am Rücken des am Boden liegenden Gläubigen. Als würden sie beiläufig eine Näharbeit heften, greifen und durchstechen die Männer geschickt Hautlappen für Hautlappen. Riesigen Fleischerhaken eingefädelt in Ösen aus Haut. An den Haken sind lange Seile befestigt, die je nach Spannung den Zug auf Haken und Haut, und damit den Schmerz, regulieren können. Später werden die Männer dem frommen Hindu noch einen dünnen Stab durch seine Zunge und einen dickeren längeren Stab durch die Backen stechen. Wie professionell die Piercer arbeiten erkennt man daran, dass kaum Blut fliesst. Wie schmerzhaft und gefährlich die Prozedur tatsächlich aber ist, kann man an den Gesichtern der Angehörigen ablesen. Ehefrauen und Schwestern ertragen den Anblick kaum, schlagen die Hände vor Augen und Mund, weinen leise. Zum Glück fliessen Tränen statt Blut. Zum Schluss die Einstichstellen mit weissem Pulver gepudert, ist der Gläubige bereit für seinen fünf Kilometer langen Marsch zum Tempel auf dem Hügel etwas ausserhalb des Stadtzentrums von Georgetown. Dutzende andere werden es ihm gleich tun und sich zu Ehren des Hindugottes Murugan mit schmerzhaften Bürden belasten. Viele tragen ein Metallgestell auf den Schultern, das bis zu dreissig Kilo wiegen soll. Einer läuft den Weg zum Tempel in Nagelschuhen. Manche befestigen an der Haut ihres Oberkörpers Orangen, Äpfel, Milchfläschchen oder Muscheln. Der grösste Masochist von allen hat sich rund zwei Dutzend Kokosnüsse mit Fleischerhaken an Brust und Rücken gehängt.
Einige weitere Zehntausende Hindus aus Malaysia nehmen ohne sich zu foltern am Fest teil. Je näher man dem Tempel kommt, desto enger wird es. Eine farbenfrohe Menschenmasse schiebt sich durch eine Gasse aus Verpflegungsständen und Altären indischer Gottheiten. Nestlé verschenkt gesalzene Joghurtdrinks, Bosch macht geschickter Weise Werbung für Bohrmaschinen. Für die dicken Stangen, die sich mancher durch die Backen gestossen hat, ist vorbohren sicher keine schlechte Idee. Thaipusam ist trotz den schmerzhaften Lasten die einige tragen, ein fröhliches Fest. Familien sitzen im Schatten der hohen Bäume in der Wiese, verfolgen den Umzug. Strahlende Kinder werden begleitet von stolzen Männern mit gelb gepuderten Glatzen und ihren schönen Frauen in prächtigen Saris. Indischer Pop pumpt mit solcher Wucht aus den Boxen, dass Zwerch- und Trommelfell mitvibrieren. Inder müssen ein anderes Lärmempfinden haben, ich jedenfalls habe nicht mal gewusst, dass Musik so laut sein kann. Eine Frau hat sich zum Essen direkt vor einen Lautsprecher gesetzt, ob das auch nur eine Form von indischem Masochismus ist, oder ob sie tatsächlich davon überzeugt ist, dass die Vibrationen die Verdauung anregen? Trauben von Tanzenden versammeln sich vor den Boxen. Wer von den Bürdenträgern noch kann, tanzt auch mit. Aber glaubt mir, der mit den Kokosnüssen hat nicht getanzt.
Das letzte Stück Weg zum Tempel führt über Treppen zum Hügel, eine anstrengende Sache bei dieser Tropenhitze. Der Mann mit den Kokosnüssen wird von seinen Angehörigen gestützt, hievt sich Stufe für Stufe dem Tempel entgegen.
Auf dem Hügel angekommen, befreien sich die Gläubigen von ihrer Last. Die unglaubliche Leistung ist vollbracht. Die Wunden werden mit Zitrone und heiliger Asche desinfiziert. Bin ich froh, dass es vorbei ist. Erleichtert und erschöpft genehmige ich mir einen Joghurtdrink. Allein das Mitfühlen war für mich Bürde genug.
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DU (Mittwoch, 24 April 2013 00:07)
Hallo ihr Lieben,...
Ich bin zwar mit vielen Wässerchen" gewaschen (aus meiner Arbeit), aber die Bilder der Prozession beim Thaipusam waren für mich ein echter shocker. Ja der Schmerz habe ich auch förmlich gespürt.,was für ein Gefühl musste es sein, dies alles " life" zu erleben, ..?.
Dafür haben die wunderschönen Farbenkombinationen und die gestochenscharfen Portraitbilder wie Balsam und Erholung auf meine strapazierte Nerven gewirkt. Bravo, diese Bilder sind eben ein echter Hingucker..
Ich vermute so ganz spontan, dass, damit in irgendeiner Form , bestimmt, eure Haushaltskasse sich stark verbessern lässt...;-)
Danke auch für die spannende Berichterstattung, sie wird mir fehlen....
Seid ganz lieb umarmt und see you soon.....
Uebrigens sowohl Simon wie Tanja haben nun die strenge Zeit vorbei, letzte Woche haben sie die Masterarbeit abgegeben und nun muss Tanja " lediglich" ihre Arbeit presentieren. Beide können bald die Früchte ihres Studiums ernten. Beide haben schon eine Stelle und freuen sich nun auf die Praxis. ( Tanja ab 1.6. und Simon ab 1.5.) aber ich hörte auch schon Simon munckeln er möchte auch mal sowas unternehmen....vamos a ver....